Trügerische Rosen
Nina spürte den rettenden Schmerz ihrer Fingernägel, die sich in ihre Handflächen gruben.
»Das ist Unsinn, Frau Marohn. Nennen Sie mir nur einen einzigen plausiblen Grund, wie ich dem Pflegepersonal die Überstunden erklären soll!«, sagte der Fortbildungsreferent in überheblichem Tonfall.
Um Sachlichkeit bemüht, konterte Nina: »Würden nicht ständig Planstellen gestrichen werden, müssten Sie niemandem die Überstunden erklären.«
Der Blick ihres Widersachers bohrte sich mit der Arroganz eines Diktators in Ninas rehbraune Augen. »Würden Sie mit der vorgegebenen Zeit für die Diagnose auskommen, müsste ich niemandem diese Überstunden klar machen.«
»Ich arbeite mit lebenden Individuen, keinen Maschinen. Somit richte ich den Zeitaufwand der Anamnese nach dem Krankheitsbild aus. Nicht nach der Zeit, die mir ein Bürokrat zugesteht.« Nina ballte die Hände zu Fäusten, um die aufbrausenden Gefühle zu beherrschen.
»Die erste Anamnese hat der Patient in der Aufnahmestation hinter sich. Sie als Chirurgin müssen lediglich festlegen, wie und wann Sie das Skalpell anzusetzen haben. Dazu sollten Sie doch wohl in der vorgegebenen Zeit in der Lage sein.« Noch bevor Nina auf diesen entwürdigenden Kommentar hätte reagieren können, ging er zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. Nina biss die Zähne zusammen und bemühte sich, ihren Ärger hinunter zu schlucken, ohne sich auf eine Schlammschlacht einzulassen.
Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Es war einer dieser Herbsttage, die man am liebsten niemals loslassen wollte. Morgens war es trotz der Sonne, die sich früh behauptete, unangenehm kühl. Für mittags sagten die Prognosen jedoch sommerliche Temperaturen voraus. Eine Mischung, die von einem heißen Sommertag nicht zu übertreffen war.
Als sie den durchdringenden Blick des dunkelhaarigen Herrn mit dem Dreitagebart, ihr Gegenüber, wahrnahm, lächelte sie verschämt. Seine Miene verriet, dass er sie auf ihrer Gedankenreise ertappt hatte. Sie fragte sich, wie sie ihn vorher übersehen konnte. Als der liebe Gott positive Attribute verteilt hatte, musste er in vorderster Reihe gestanden haben. Ninas Versuch, ihn nicht anzustarren, misslang hoffnungslos. Gleichzeitig spürte sie, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Der Blick, mit dem er sie betrachtete, ließ es in ihrem Bauch kribblen, als hätte eine Ameisenarmee zur Party aufgerufen.
In der Frühstückspause zog es Nina an das Panoramafenster der Cafeteria. Die Aussicht auf die Ostsee faszinierte sie. Es wehte eine leichte Brise, die das Wasser imposant kräuselte. Die Sonnenstrahlen funkelten, wie kleine Sterne auf den Wellen, bevor sie sich in einer rauschenden Schaumkrone überschlugen.
»Kaffee?«, hauchte eine männliche Stimme in Ninas Ohr.
Überrascht drehte sie sich um und erkannte den attraktiven Dunkelhaarigen wieder. »Etwas Heißes mit Koffein wäre jetzt nicht schlecht«, antwortete Nina.
Er bot ihr Platz am nächstgelegenen Tisch, besorgte die Getränke und reichte ihr die heiße Tasse. Als sich ihre Finger dabei kurz berührten, hatte Nina das Gefühl, die Raumtemperatur wäre um einige Grad nach oben geschossen. Er schob seinen Stuhl zurecht und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
»Joachim Streising«, stellte er sich vor.
Nina reichte ihm die Hand. »Nina Marohn.«
»Gut, dass jemand es gewagt hat, unserem Feldwebel die Meinung zu sagen.«
Nina errötete. »Ich kann mich in solchen Situationen nicht zurückhalten.«
»Mir gefallen Frauen, die etwas zu sagen haben.«
Sie lächelte ihn verschmitzt an, führte die Tasse an die Lippen und sah durch den aufsteigenden Dampf hindurch in seine Augen.
Während Streising ohne Pause in Ninas Augen sah, redeten sie über die verbleibenden Tage an der Ostsee. Nach dem viertägigen Seminar hatten viele der Kursteilnehmer den Freitag als Urlaubstag an die Fortbildungsreise angehängt. So auch Nina, die angenehm überrascht war, als sie hörte, dass auch er einen Tag länger bleiben würde.
Er riss seinen Blick von ihren Augen los und sah zum Seminarbereich hinüber. »Der Feldwebel winkt zur nächsten Kampfrunde.«
»Dann sollten wir den Sklaventreiber wieder zu Wort kommen lassen«, sagte Nina seufzend, während sie aufstand. Schade, sie hätte gern gewusst, wo das hingeführt hätte. Streising brachte ihr Herz bereits nach diesem kurzen Flirt aus dem Rhythmus. Die dunklen Augen, die sie aufzufressen schienen, gingen ihr durch und durch. Andererseits war da ein Gefühl, das sie auf unerklärliche Weise vor ihm warnte.
Glücklich, ein paar Stunden für sich zu haben, klemmte sich Nina ihre Handtasche unter den Arm und verließ das Hotel.
Verträumt ließ sie den Blick über die Lübecker Bucht schweifen. Die idyllische Strandpromenade an der Vorderreihe mit den gemütlichen Cafés säumte die Linie zwischen Festland und Trave. Nach Beute lungernde Möwen zogen kreischend ihre Kreise über den Fischkuttern. Nina schloss die Augen und ließ die Meeresbrise in ihre Lungen strömen. Die salzige Luft war für sie wie ein kostbares Parfum.
Herannahende Schritte rissen sie aus ihrem Tagtraum. Als sie die Augen öffnete, stand Joachim Streising vor ihr und lächelte sie an.
»Störe ich?«
»Ich war ein wenig in meinen Gedanken versunken.« Dabei drohte sie sofort wieder zu versinken – in seinen Augen.
Er kratzte sich den Dreitagebart. »Wie sieht es aus? Hast du Lust, mich zum Essen zu begleiten?« Auffordernd bot er ihr seinen Arm an. Einen Moment war sie versucht, ihn zu ergreifen und ihm zu folgen, ohne zu fragen, wohin er sie entführen würde. Die Wärme, die sich in ihrem Unterleib ausbreitete, wenn er sie ansah, sprach dafür. Andererseits, dachte sie, wer bin ich, dass ich mich ihm an den Hals werfe? Außerdem hatte sie bereits einen Plan für die Mittagspause. So sehr die Einladung sie reizte, sie beschloss, an ihrer Idee festzuhalten. »Vielleicht heute Abend oder morgen. Jetzt habe ich etwas vor, das ich nicht verschieben möchte.«
Sein Blick spiegelte Enttäuschung wieder. »Ich werde Ausschau nach dir halten. Solltest du deine Meinung ändern, ich bin im Steakhaus gleich hier nebenan.«
»Lass es dir schmecken. Wir sehen uns im Hotel.« Er sah sie gespielt beleidigt an, zwinkerte ihr zu und verschwand Richtung Hafen.
Nina zog es in die entgegengesetzte Richtung. An einem Kiosk kaufte sie sich ein Fischbrötchen und ging damit an den Strand. Sofort verstopfte ihr der warme Sand die Sandalen, sodass sie die Schuhe auszog und barfuß weiter spazierte. Ein Gefühl, das sie an ihre Kindheit erinnerte, die sie an der Nordsee verbracht hatte. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie den Norden vermisste, seit ihr Dienstweg sie gezwungen hatte, nach Bayern zu ziehen. Nachdem sie am ersten Steg vorbei gegangen war, entdeckte sie einen Felsvorsprung, der aus dem Wasser ragte. Sie setzte sich darauf und ließ die Füße in die seichten Wellen baumeln. Den meisten Strandbesuchern wäre die Wassertemperatur längst zu kalt gewesen, für Nina war sie perfekt. Sie kühlte die Hitze, die sie seit der Begegnung mit Streising fühlte. So nett und sexy er auch war, es war richtig, seine Einladung auszuschlagen. Zufrieden räkelte sie sich in der Herbstsonne, genoss die leichte Brise und lauschte der Brandung. Dabei fiel ihr Blick auf zwei Paare beim Volleyball spielen. Sie beobachtete, wie einer der Spieler seine Mitspielerin umrannte. Lachend rollten die beiden durch den Sand, während der Ball unhaltbar davon schoss. Sie benahmen sich, als wären sie noch in der Eroberungsphase. Andererseits könnten sie ihr Ziel auch schon erreicht haben. Ob sie in ein paar Wochen oder Monaten immer noch so viel Freude aneinander haben werden? Oder ist ihre Liebe dann schon kalt und jeder auf neuer Jagd? Nina wickelte das Brötchen aus dem Papier und verschlang es undamenhaft, aber mit dem richtigen Genuss. Der würzige Geschmack lag ihr noch lange auf der Zunge. Nach dem Essen zog sie die Beine aus dem Wasser. Die Füße waren vor Kälte weiß und gefühllos. Nina streckte sie in die Sonne, spreizte die Zehen, und ließ das salzige Wasser auf der Haut im Wind trocknen. Sie legte sich auf dem Felsen zurück und beobachtete das Ballspiel. Ihre Gedanken wanderten zurück in ihre Jugend, an ihren ersten Kuss am Strand und …